Bernhard Lill

Tausend Wege zur Erleuchtung

Eine Reise zu berühmten Wallfahrtsorten Nordindiens - um dort Gurus zu fragen: Was ist der Sinn des Lebens? (Teil 1)

 
"Wie viele Götter gibt es im Hinduismus", frage ich Ravi. - "330 Millionen", antwortet er. "Aber eigentlich nur einen einzigen: Brahma, eine Art Urkraft, aus der alles hervorgeht. Die anderen Gottheiten sind nur Fassetten davon."
Ich bin im Auftrag eines deutschen Reisemagazins in Indien. 5000 Kilometer soll ich quer durch den Norden des Landes fahren, fliegen und wandern. Zu den wichtigsten Wallfahrtsorten der Hindus, Buddhisten, Sikhs und Jains - der Religionen, die in Indien ihren Ursprung haben. Dort soll ich jeweils einen Priester oder heiligen Mann nach dem Sinn des Lebens fragen. Der erste Teil meiner Reise hat mich nach Varanasi geführt, der Stadt, die die englischen Kolonialherren Benares nannten.
Der alte Mann und der Weg zur Erlösung
In der Abendsonne leuchten die Bougainvilleen im Innenhof des Mumukshu-Bhavan knallig violett. Ravi hat mich hierher geführt. Vögel zwitschern. Der heilige Mann betrachtet schweigend das Loch in seinem Baumwollsocken. Fünf lange Minuten schon. Er heißt Tarkeshwar, sein Haar und sein Bart sind schlohweiß, 85 Jahre ist er alt.
Seit 2500 Jahren strömen Pilger, Gelehrte und Wanderasketen aus allen Teilen Indiens nach Varanasi. Heute reisen viele mit Bussen und Zügen an, andere gehen Hunderte Kilometer zu Fuß, wie viele Generationen vor ihnen. Sie alle zieht es zu den Ghats, den Treppen, die zum Ganges führen - um sich in den Fluten reinzuwaschen von den Sünden. Oder um nach ihrem Tod dort verbrannt zu werden.
Einst hat er als Chemiker gearbeitet, nun bereitet er sich auf den Tod vor. Endlich spricht er:
"Die Pilger tragen alle ein bestimmtes Bild von Varanasi im Herzen, schon lange bevor sie hier ankommen",
"Der Sinn des Lebens besteht darin, Moksha zu erreichen. Nur durch Abkehr von der Welt, von der eigenen Familie, von allen Bindungen und durch das Studium der Veden, unserer heiligen Schriften, kann ich auf Erlösung hoffen. Und das ist das Ende aller Wiedergeburten."
Am Abend gehen Ravi und ich zu den Ghats, den Treppen, die zu den Wassern des Ganges führen. Dort entzündet er eine Kerze, die er dem Fluss opfern will. In einem kleinen Blumenschälchen setzt er sie ins Wasser. Zusammen mit Hunderten von anderen Kerzen treibt sie auf dem Strom fort. Und erhellt die einsetzende Dunkelheit.
1. Ankunft in Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges
 
Varanasi - Stadt des Lichts
Bald folgt Teil 2:
Bodhgaya - wo Buddha einst Erleuchtung fand.
Text: Bernhard Lill, 2014
Foto Credits: siehe einzelne Fotos; Cover: Christopher Michel, cc 2.0; Vishnu: Indi Samarajiva, cc 2.0; sonst: Autor.
Wer verstehen will, warum Varanasi, diese Metropole mit 1,2 Millionen Einwohnern, für Hindus der Ort der Erlösung ist, muss die Stadt mit ihren Augen sehen. Dabei wird mir Ravi Dwiwedi helfen, 36 Jahre alt, mit einem stets freundlichen Lächeln und den Manieren eines Aristokraten. Ravi ist Archäologe und Fremdenführer und hier aufgewachsen.
Varanasi begrüßt Besucher mit einer Kakophonie von Geräuschen. Hindi-Schlager schallen aus offenen Fenstern. Lastwagen hupen. Tempelglocken bimmeln. Motorrad-Rikschas schnarren. Und vor einem verwitterten Postgebäude machen sich zwei Schweine grunzend über den Abfall her. Das soll ein Ort tiefempfundener Spiritualität sein? Eine der wichtigsten Pilgerstätten Indiens?
Im Gassengewirr der Altstadt Godaulia sind die indischen Götter allgegenwärtig: Über den Türen zu Tempeln und Wohnungen thront der dicke, elefantenköpfige Ganesha, der Gott für Glück und Erfolg. Zwischendurch immer wieder mit Blumen geschmückte Schreine des Affengottes Hanuman, den Gläubige wegen seiner unbedingten Pflichterfüllung verwehren. In den Teestuben, bei Seidenhändlern und Teppichverkäufern hängen bunte Poster der Göttin Lakshmi. Oder Bilder ihres vierarmigen, blauäugigen Gemahls Vishnu. Die beiden sollen den Besitzern Reichtum bescheren.
sagt Ravi und erzählt von den Mahatmyas, den uralten Lobeshymnen auf den Ort. Sie rühmen Varanasi als Wohnstatt des mächtigen Gottes Shiva, ja aller Götter, als Hort der Weisheit und als Mittelpunkt der Welt, als Furt zwischen diesem Leben und der Erlösung. Varanasi, so heißt es, ist die alles überstrahlende, immer währende Stadt der Hindus. Die Stadt des Lichts.